Es ist draußen überall, aber auch bei uns zu Hause, bei der Oase der Ruhe und Gemütlichkeit angekommen. Es ist im Wohnzimmer, am Esstisch, in der Küche, im Schlafzimmer, mittlerweile in vielen Behörden, in Seminarräumen und auch im Klassenzimmer. Wir sind von der Digitalisierung umgeben. Unser Alter Ego ist nun nicht mehr unser Kindheitsfreund und auch kein langjähriger Freund, sondern unser Smartphone. Unsere Bankkarte ist unser Smartphone, unser Ausweis ist unser Smartphone. Reisen wir, so ist unser Smartphone unser Reiseführer. Wollen wir jemanden erreichen, erscheinen uns Brieftauben zwar immer noch äußerst verlockend, doch das Smartphone ist das bessere Kommunikationsmittel. Die heutigen Schüler lesen ihre Texte auf ihren iPads und machen ihre Hausaufgaben auf ihren Laptops. Fällt ein Seminar an der Uni aus, so finden die Studenten den Ersatz im Online-Ordner. Viele der modernen Menschen suchen online die große Liebe und trennen sich mit „Diesen Kontakt blockieren“. Kindheitserinnerungen begleiten uns nicht mehr in Papierform, sondern sind abgespeichert in digitalen Ordnern. Weiß das Smartphone nicht manchmal mehr, als wir über uns selbst wissen?
Die Digitalisierung ist eine Herausforderung nicht nur hinsichtlich ihrer Umsetzung, sondern hinsichtlich ihrer Folgen. Die Erleichterung, die wir der Digitalisierung verdanken, darf uns nicht über ihr Janusgesicht hinwegtäuschen. Dass die Digitalisierung folgenreich ist und bewährte soziale Strukturen nicht nur verändern, sondern diese und die Gesellschaft insgesamt gefährden kann, erläuterte uns Byung-Chul Han. Im zweiten Tertial des Jahres 2022 haben wir im Lesezirkel zwei Werke des Philosophen Han und ein weiteres vom Physikprofessor Max Tegmark gelesen.
„Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Was wird aus einer Gesellschaft, deren Rituale verschwinden – und mit ihnen das Verbindende?“ 1 war das erste Werk von Han, dem wir uns im Lesezirkel im April gewidmet haben. Han macht in seinem Werk deutlich, wie verloren der Einzelne in einer Gesellschaft zunehmender Individualisierung ist und warum wir dringend eine neue Lebensform brauchen. Dass Han mit seinem Basiliskenblick gesellschaftliche Probleme eruiert, sorgte im Lesezirkel für Begeisterung, doch diese wurde alsbald von Ernüchterung gedämpft. Han gebe keine zufriedenstellende Lösung für die von ihm festgestellten Probleme.
“Wie stellt sich Han die Lösung genau vor? Es ist typisch für Philosophen, dass sie die Lösungen in Ansätzen anreißen, aber keine Beispiele dafür geben. Werden alte Rituale in den Alltag implementiert oder sind es neue Formen, die sich etablieren müssen? Als Leser bin ich hier auf mich allein gestellt.” 2
Begeistert von Hans erster Analyse, wagten wir im Mai im Lesezirkel einen weiteren Schritt in Hans Gedankenwelt mit dem Ziel, die bereits behandelte Demokratiekrise aus der Perspektive des digitalen Fortschritts zu betrachten. Hans desillusionierter Blick auf die Digitalisierung, seine Warnung vor deren Gefahren und seine Diagnose, die Demokratie entarte zur Infokratie, waren die Quintessenz seines Werks „Infokratie. Digitalisierung die Krise der Demokratie.“ 3 In seinem Buch zeichnet er nämlich, äußerst pessimistisch, ein Bild vom heutigen „Informationsregime“, in dem nur derjenige, der über Informationen verfügt, die Macht innehat. Dabei spricht Han von Informationskriegen, denen sachliche Debatten weichen, und warnt uns davor. Beinahe verdammt er die neue Entwicklung.
Da wir im Lesezirkel auch mal kritische Analysen einer kritischen Betrachtung unterziehen und bestrebt sind, auch die positiven Seiten einer (Informations-)Krise zu erkennen, äußersten einige unserer Teilnehmer Einwände gegen Hans Sichtweise. „Wir kennen von den muslimischen Grundprinzipien her den Satz: Al-aslu fî-l-aschyâ‘ al-ibâha. Sinngemäß heißt das, dass alle Dinge in ihrer Grundform gewährt sind. Meines Erachtens gilt das auch für Informationen. Abgesehen von der Tatsache, dass Han in einem anderen Werk vom Smartphone als Unding spricht, wird es unwillkürlich darin münden, dass Muslime über den Umgang mit ihr neu denken müssen. Es gibt viele undefinierte Bereiche für uns und dennoch sehe ich in dem technologischen Fortschritt eine große Chance.“ 4
Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Digitalisierung steht auch die Frage nach der Künstlichen Intelligenz. In seinem Werk „Leben 3.0. Mensch sein Im Zeitalter Künstlicher Intelligenz“ 5 hat Max Tegmark Fragen wie: Künstliche Intelligenz wird die Zukunft des Lebens in unserem Universum verändern. Wird sie uns ins Verderben stürzen oder zur Weiterentwicklung des Homo Sapiens beitragen?, tief durchdrungen. Mit seinem Buch als Grundlage haben wir im Juni unser Treffen gestaltet, um das Tertial damit abzuschließen. Viele der von ihm Tegmark aufgeworfenen Fragen machten uns zweifellos nachdenklich. Im Lesezirkel konnte man sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren, dass einige Teilnehmer Anstoß daran nehmen, dass sowohl die Beschäftigung mit Digitalisierung als auch mit Künstlicher Intelligenz einer wichtigen Komponente ermangelt, nämlich der religiösen. Oft wird der Mensch in einschlägigen Analysen nahezu als Objekt der Digitalisierung dargestellt, das nach einem dystopischen Szenario der QI unterlegen wäre. Ist die differentia specifica des Menschen aber nicht, dass er fähig ist, Gott zu erkennen? Bereits im Mittelalter haben Imam al-Ghazālī in seinem „Der Erretter aus dem Irrtum“, Ibn Tufail in „Der Philosoph als Autodidakt“ sowie Descartes in seinen Meditationen die Fähigkeit des Menschen aufgezeigt, Gott zu erkennen. Unser Lesezirkel weicht von dieser Tradition nicht ab und wiederholte sie mit Entschiedenheit. „Was macht den Menschen aus? Ist unser wichtigstes Unterscheidungsmerkmal ,wie Tegmark sich fragt, das Bewusstsein? Für mich ist der entscheidende Differenzierungsaspekt die Fähigkeit an Gott zu glauben bzw. den Glauben an Ihn zu finden. Könnte eine künstliche Intelligenz, die über ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein verfügt, auch zur Gotteserkenntnis gelangen?“ 6
© Copyright by Netzwerk Muslimischer Akademiker.